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  • Die Operette „Wiener Blut“ – des Theaterkapellmeisters Adolf Müller jun. größter Erfolg

    Norbert Rubey

    Am Samstag, dem 3. Juni 1899, um 16.15 Uhr, starb in Wien Johann Strauss (Sohn). – –

    Ab diesem Zeitpunkt wurde das Thema Strauss generalstabsmäßig abgewickelt, von der Bestattung bis zur lukrativen Umsetzung seines  musikalischen Vermächtnisses. Bereits zwei Stunden und fünf Minuten nach dem eingetretenen Tod informierte „Die tieftrauernde Witwe“ – ja, tatsächlich hatte sie sich so unterschrieben – informierte Adele Strauss per Telegramm den Wiener Gemeinderat vom Ableben ihres Gatten. Postwendend kondolierte am nächsten Tag Bürgermeister Karl Lueger. Schon am Dienstag, dem 6. Juni, erfolgte dann die provisorische Beisetzung auf dem Wiener Zentralfriedhof, da die von der Stadt Wien gewidmete Ehrengruft erst gebaut werden musste. Die zahlreichen Nachrufe und die Berichte vom feierlichen Kondukt waren noch kaum verklungen als das „Wiener Tagblatt“ vom 20. Juni bereits die erste Katze aus dem Sack ließ: 

    „Wie wir erfahren, wird Victor Léon im Vereine mit Leo Stein Strauß’schen Motiven ein neues Textbuch unterlegen. Die Musik wird von Kapellmeister Adolph Müller ergänzt werden.“

    Fünf Tage später, in der Ausgabe des „Wiener Tagblatts“ vom 25. Juni gab es schon wesentlich mehr Information:

    „Wie wir bereits gemeldet haben, werden die Librettisten Victor Léon und Leo Stein ein Textbuch zu einer neuen Operette verfassen, welcher ausschließlich Tanzmotive von Johann Strauß unterlegt werden. Die beiden Autoren, die sich vor Kurzem erst [bitte beachten Sie, „vor Kurzem erst“] zu gemeinsamer Arbeit vereinigt haben, treffen heute in Unterach am Attersee zusammen, um über die Wahl der Handlung des Operettenwerkes schlüßig zu werden. Diese Arbeit wurde noch zu Lebzeiten Meisters Strauß mit seiner Einwilligung vereinbart [Dazu gibt es in der 10-bändigen Briefe- und Dokumentenausgabe, herausgegeben von Franz Mailer, keine einzige Quelle!]. Die Strauß’schen Melodien werden von Kapellmeister Adolph Müller bearbeitet werden. Besonders zu bemerken ist, daß die Musik nur Strauß’sche Motive enthalten […] wird. An welchem Theater, ob an der Wien oder in der Leopoldstadt diese neue Strauß-Operette zur Aufführung gelangen wird, ist bis heute noch unbestimmt. Beide Bühnen bemühen sich um die erst im Entstehen begriffene Operette. Den Verlag wird Herr Josef Weinberger haben.“

    Kurz zusammengefasst: Die Librettisten Léon und Stein treffen einander erstmals um überhaupt einmal ein passendes Sujet zu diskutieren, – zu wählen. Eine Bühne für die Uraufführung gibt es noch nicht. Die Auswahl, um einer derart großen Repräsentationsaufgabe gerecht zu werden, war in Wien zum damaligen Zeitpunkt recht klein. Es boten sich tatsächlich nur das Theater an der Wien und das Carl-Theater als renommierte Aufführungsstätten für eine Operette an. Der Wiener Musikverlag von Josef Weinberger, das Librettisten-Duo Victor Léon und Leo Stein sowie Kapellmeister Adolf Müller jun., vom Theater an der Wien waren also bereit das Projekt durchzuführen. Zu Lebzeiten von Johann Strauss wurde diese Operette – arrangiert aus früheren Tanzmusik-Kompositionen desselben – allerdings NIE besprochen. Bitte, – dies hat zu gelten, solange keine Primärquelle bekannt ist, welche die in der Sekundärliteratur bis heute tradierte Mythe, „Diese Arbeit wurde noch zu Lebzeiten Meisters Strauß mit seiner Einwilligung vereinbart“, als tatsächlich stattgefunden habendes Ereignis erkennen lässt. Nehmen wir doch endlich zur Kenntnis: „Die tieftrauernde Witwe“ – Adele Strauss – stampfte das ehrgeizige Projekt, die Operette Wiener Blut, aus dem Boden, kaum dass ihr Gatte verstorben war! So greis war Strauss vor seinem Ableben noch nicht, dass er seine Zustimmung zum Arrangement eines Bühnenwerks gegeben hätte, von dem nicht einmal noch das Sujet bekannt war.

    Mitunter wird auf eine briefliche Vereinbarung von Johann Strauss mit der Direktorin des Theaters an der Wien hingewiesen. Am 12. April 1899 räumte ihr Strauss das ausschließliche Aufführungsrecht für Wien der Operetten Eine Nacht in Venedig, Der Zigeunerbaron, Die Fledermaus, Waldmeister und Jabuka ein. Im letzten Absatz des Briefes hielt Strauss ein weiteres Zugeständnis fest:

    „Ich räume Ihnen das ausschließliche Aufführungsrecht des nächsten von mir, sei es neu sei es mit Benützung bereits von mir componirten Musik zu componirenden Werkes (Oper und Ballet ausgeschlossen) für Wien zu den bezüglich der Operette ,Waldmeister‘ seinerzeit vereinbarten Bedingungen ein.“

    Daraus lässt sich keine Zustimmung zu einer von Léon, Stein und Müller arrangierten Operette ableiten. Darum ging es in dieser Vereinbarung zwischen Strauss und Schönerer auch gar nicht.

    Zwei Wochen nach dem zitierten Artikel im „Wiener Tagblatt“ – am 7. Juli 1899 – schrieb die Direktorin des Theaters an der Wien, Alexandrine von Schönerer, an Adele Strauss:

    „Mit den Herren Weinberger – Léon – Stein konnte vorläufig eine Einigung nicht erzielt werden, die Herren halten sonderbarerweise den berühmt-populären Namen Johann Strauß – sich selbst zu Gute!!!“

    Und dann weiter, „Ich weiß nicht ob Sie über den Stoff des gewählten Libretto’s orientiert sind?“

    Diese Frage schlägt dem Fass den Boden aus! Die Direktorin des Theaters an der Wien zweifelte, ob Adele Strauss über die Handlung der von ihr selbst, Adele Strauss, in Auftrag gegebenen Operette überhaupt Bescheid weiß!

    Doch schon im nächsten Satz beruhigte Frau von Schönerer: „Er [der Stoff, das Sujet] erscheint mir äußerst glücklich und ganz entschieden der wienerischen Eigenart des Meisters vorzüglich angepaßt. Bei unserem feinsinnigen Müller [Adolf Müller jun., Kapellmeister des Theaters an der Wien] ist der musikalische Theil gewiß in besten Händen […]

    Bereits vier Tage danach, am 11. Juli 1899, musste die Direktorin des Theaters an der Wien ihrem Kapellmeister Adolf Müller jun. allerdings die Ablehnung der Uraufführung mitteilen:

    „Was nun die Strauss-Operette anbelangt, werden Sie ja wissen, daß es den Autoren gelungen ist das passende Wienerische Congreß-Süjet von Heuberger dafür frei zu bekommen, daß aber eine Einigung derzeit mit mir nicht möglich war, da die kleinen Schäcker: Victorchen und Leochen plötzlich für die Berühmtheit und Popularität des Walzerkönig’s bezahlt werden wollten; damit will ich doch lieber warten bis wenigstens Eines von Beiden geworden oder so – ,künstlerisch bescheiden’ – wie es der große Jean trotz seiner Riesenerfolge stets geblieben! – Hoffentlich werde ich durch die fertige Operette seinerzeit anderer Meinung.“

    Also, – einerseits stellte offensichtlich Victor Léon – „Victorchen und Leochen“ – unannehmbare finanzielle Forderungen an die Direktion des Theaters an der Wien, andererseits hegte die erfahrene Theaterdirektorin Alexandrine von Schönerer Zweifel am Erfolg des in Aussicht gestellten Operetten-Pasticcios, – und lehnte dieses somit zur Uraufführung ab. Noch eine interessante Information entnehmen wir diesem Brief: Das Sujet war bereits dem Operettenkomponisten Richard Heuberger zugesagt gewesen.

    Léon, Stein und Müller mussten während der Sommermonate extrem intensiv gearbeitet haben, wenngleich Kapellmeister Müller „nur Rezitative komponierte, im übrigen aber die originalen Instrumentationen von Strauß übernommen hatte“, wie schon Norbert Linke feststellte. Auf über 30 Kompositionen von Strauss griff Müller zurück.

    In der ersten Ausgabe des Almanachs seines in Wien registrierten „Kulturvereins ,Wiener Blut‘“ veröffentlichte Helmut Reichenauer im Oktober 2011 auf zweieinhalb Seiten in tabellarischer Form erstmals eine genaue und sehr übersichtliche Aufstellung der musikalischen Zusammensetzung der Operette Wiener Blut: „Ab sofort wissen Sie, welches Werk von Strauss an welcher Stelle des Bühnenwerks erklingt, sei es als komplettes Tanzstück oder auch nur als kurzes Melodiezitat“, freut sich Reichenauer.

    Während die neue Operette im Sommer 1899 im Eilzugstempo entstand, plagten die geschäftstüchtige Witwe Adele Strauss bereits wieder andere Sorgen: Wer soll Strauss’ Musik zum Ballett Aschenbrödel vollenden, suchte sie im August 1899 den Rat des befreundeten Pressburger Stadthauptmanns Johann Batka, wenngleich sie damals schon den Komponisten Josef Bayer ins Auge gefasst hatte.

    Ende September berichteten die Wiener Tageszeitungen erstmals vom Vertragsabschluss mit dem Carl-Theater, – beispielsweise das „Fremden-Blatt“ am 26. September:

    „,Wiener Blut‘ betitelt sich – wie die Direktion des Carl-Theaters mittheilt – die neue Operette mit Musik von Johann Strauß, welche eine der nächsten Novitäten dieser Bühne sein wird. Diese Operette wird Schöpfungen des verewigten Meisters enthalten, welche seinen Weltruhm begründeten, bisher aber noch niemals bühnenmäßige Verwendung fanden. Die künstlerischen und materiellen Fragen dieser Angelegenheit wurden mit dem Meister kurz vor seinem Tode ausdrücklich vereinbart, der großen Werth darauf gelegt hatte, die musikalische Einrichtung in den Händen des von ihm geschätzten Adolf Müller zu wissen; mit der Verfassung des Librettos wurden die Herren Victor Léon und Leo Stein betraut.“

    In Kenntnis der Quellenlage erscheinen solche Zeitungsberichte nur peinlich – insbesondere die auffällige Rechtfertigung des Unternehmens, nämlich dass das ganze Operettenprojekt mit Strauss vereinbart gewesen wäre, nun sogar auch in materiellen Fragen!

    Der 74. Geburtstag von Johann Strauss (Sohn) am 25. Oktober bot einmal mehr die Möglichkeit seiner bei verschiedenen Veranstaltungen zu gedenken:

    „Die Gesellschaft der Musikfreunde veranstaltet am Mittwoch, den 25. Oktober 1899 um halb acht Uhr im großen Musikvereinssaale zum Gedächtniß für Johann Strauß eine solenne Trauerfeier, bei welcher Johannes Brahms’ ,Deutsches Requiem‘ zur Aufführung kommt.“, brachte das „Fremden-Blatt“ am 13. Oktober eine Ankündigung.

    Am Tag nach dem Geburtstag, am 26. Oktober 1899, war es schließlich so weit: Nach einem gewaltigen Probenmarathon und zahlreichen Besetzungsänderungen fand im Wiener Carl-Theater die erste Aufführung der Operette Wiener Blut statt, „Zur Feier des Geburtstages des verewigten Meisters“, wie der Theaterzettel das Publikum pathetisch wissen ließ.

    Der Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück. Nicht einmal 50 Vorstellungen en suite erzielte das Werk. Erst eine Neueinstudierung von Wiener Blut, deren Premiere am 23. April 1905 im Theater an der Wien stattfand, führte zum erhofften Kassenerfolg und verhalf dieser Operette zum Siegeszug um die ganze Welt.

    Zur Uraufführung kritisiert Karl Kraus in „Die Fackel“:

    „Leon & Stein speculierten auf die Manen Johann Strauß’, […] Man weiß ja, dass unmittelbar nach dem Tode […] im Nebenzimmer bereits getandelt und im ,Nachlass‘ herumgestiert wurde. […] Der Tod […] ist von sorgenden Hausgeistern für befreundete Journalisten adaptiert worden. […] Eine so mätzchenreiche Komödie ward mit Johann Strauß’ Andenken getrieben […] sie warfen verschwenderisch Erdschollen ins Grab, wohlwissend, dass sie dafür Tantièmen zurückbekommen werden. Aber schandenhalber hätte bis zur Première doch ein Trauerjahr verstreichen können.“

    (Karl Kraus, „Die Fackel“, Heft 21, Oktober 1899.)