
„Johann Strauß hat sich im Himmel einen kurzen Urlaub genommen, weil er e t w a s thun will.“
Karikatur, in: „Kikeriki“, 12.11.1899: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO.
Johann Strauss (Sohn) stirbt am 3. Juni 1899, um 16.15 Uhr. Das „Thema Strauss“ wird nun von der Bestattung bis zur lukrativen Vermarktung seiner Musik generalstabsmäßig abgewickelt. Zwei Stunden und fünf Minuten nach dem Tod informiert Adele Strauss den Wiener Gemeinderat. Bürgermeister Karl Lueger kondoliert am nächsten Tag. In politisch gefärbten Trauerreden vereinnahmt er Strauss. Am 6. Juni erfolgt die Beisetzung auf dem Wiener Zentralfriedhof. Kaum sind die Nachrufe verklungen, lässt das „Wiener Tagblatt“ vom 20. Juni die Katze aus dem Sack:
„Wie wir erfahren, wird Victor Léon im Vereine mit Leo Stein Strauß’schen Motiven ein neues Textbuch unterlegen. Die Musik wird von Kapellmeister Adolph Müller ergänzt werden.“
Fünf Tage später informiert das „Wiener Tagblatt“:
„Wie wir bereits gemeldet haben, werden die Librettisten Victor Léon und Leo Stein ein Textbuch zu einer neuen Operette verfassen, welcher ausschließlich Tanzmotive von Johann Strauß unterlegt werden. Die beiden Autoren, die sich vor Kurzem erst [!!] zu gemeinsamer Arbeit vereinigt haben, treffen heute in Unterach am Attersee zusammen, um über die Wahl der Handlung des Operettenwerkes schlüßig zu werden. Diese Arbeit wurde noch zu Lebzeiten Meisters Strauß mit seiner Einwilligung vereinbart [Dazu gibt es keine Quelle!!]. Die Strauß’schen Melodien werden von Kapellmeister Adolph Müller bearbeitet werden. Besonders zu bemerken ist, daß die Musik nur Strauß’sche Motive enthalten […] wird. An welchem Theater, ob an der Wien oder in der Leopoldstadt diese neue Strauß-Operette zur Aufführung gelangen wird, ist bis heute noch unbestimmt. Beide Bühnen bemühen sich um die erst im Entstehen begriffene Operette. Den Verlag wird Herr Josef Weinberger haben.“
Das Librettisten-Duo berät ein passendes Sujet. Eine Bühne für die Uraufführung ist noch nicht in Sicht. Léon, Stein und der Kapellmeister des Theaters an der Wien, Adolf Müller jun. planen ein mit Strauss nie besprochenes Projekt! Auch der Wiener Musikverleger Weinberger macht mit. Die von der Sekundärliteratur tradierte Mythe, „Diese Arbeit wurde noch zu Lebzeiten Meisters Strauß mit seiner Einwilligung vereinbart“, ist unhaltbar! Adele Strauss – stampft das ehrgeizige Projekt aus dem Boden, kaum dass ihr Gatte verstorben ist! Nie hätte Strauss seine Zustimmung zum musikalischen Arrangement eines Bühnenwerks gegeben, von dem nicht einmal noch das Sujet bekannt ist.
Man missdeutet eine Vereinbarung von Strauss mit der Direktorin des Theaters an der Wien, Alexandrine von Schönerer: Am 12. April 1899 räumt ihr Strauss das ausschließliche Aufführungsrecht für Wien der Operetten Eine Nacht in Venedig, Der Zigeunerbaron, Die Fledermaus, Waldmeister und Jabuka ein. Im letzten Absatz des Briefes gibt er ein weiteres Zugeständnis:
„Ich räume Ihnen das ausschließliche Aufführungsrecht des nächsten von mir, sei es neu sei es mit Benützung bereits von mir componirten Musik zu componirenden Werkes (Oper und Ballet ausgeschlossen) für Wien zu den bezüglich der Operette ,Waldmeister‘ seinerzeit vereinbarten Bedingungen ein.“ Daraus lässt sich keine Zustimmung zur von Léon, Stein und Müller arrangierten Operette Wiener Blut ableiten.
Zwei Wochen nach dem zitierten Artikel im „Wiener Tagblatt“ schreibt am 7. Juli 1899 die Direktorin des Theaters an der Wien an Adele Strauss:
„Mit den Herren Weinberger – Léon – Stein konnte vorläufig eine Einigung nicht erzielt werden, die Herren halten sonderbarerweise den berühmt-populären Namen Johann Strauß – sich selbst zu Gute!!!“ Und dann weiter: „Ich weiß nicht ob Sie über den Stoff des gewählten Libretto’s orientiert sind?“
Schönerer bezweifelt sogar, dass Adele Strauss über die Handlung des von ihr in Auftrag gegebenen Werkes informiert ist! Im nächsten Satz beruhigt Frau von Schönerer: „Er [der Stoff, das Sujet] erscheint mir äußerst glücklich und ganz entschieden der wienerischen Eigenart des Meisters vorzüglich angepaßt. Bei unserem feinsinnigen Müller ist der musikalische Theil gewiß in besten Händen.“
Schon vier Tage später, am 11. Juli 1899, teilt Direktorin Schönerer Kapellmeister Müller die Ablehnung der Uraufführung mit:
„Was nun die Strauss-Operette anbelangt, werden Sie ja wissen, daß es den Autoren gelungen ist das passende Wienerische Congreß-Süjet von Heuberger dafür frei zu bekommen, daß aber eine Einigung derzeit mit mir nicht möglich war, da die kleinen Schäcker: Victorchen und Leochen plötzlich für die Berühmtheit und Popularität des Walzerkönig’s bezahlt werden wollten; damit will ich doch lieber warten bis wenigstens Eines von Beiden geworden oder so – ,künstlerisch bescheiden’ – wie es der große Jean trotz seiner Riesenerfolge stets geblieben! – Hoffentlich werde ich durch die fertige Operette seinerzeit anderer Meinung.“
Léon, Stein und Müller arbeiten im Sommer intensiv am Werk, wenngleich Kapellmeister Müller „nur Rezitative komponierte, im übrigen aber die originalen Instrumentationen von Strauß übernommen hatte“, wie Norbert Linke feststellt. Müller greift auf über 30 Kompositionen von Strauss zurück. Helmut Reichenauer veröffentlicht im Almanach des „Kulturvereins Wiener Blut“ im Oktober 2011 eine tabellarische Aufstellung: „Ab sofort wissen Sie, welches Werk von Strauss an welcher Stelle des Bühnenwerks erklingt, sei es als komplettes Tanzstück oder auch nur als kurzes Melodiezitat.“
Am 26. September 1899 berichtet das „Fremden-Blatt“ vom Vertragsabschluss mit dem Carl-Theater:
„,Wiener Blut‘ betitelt sich – wie die Direktion des Carl-Theaters mittheilt – die neue Operette mit Musik von Johann Strauß […].Die künstlerischen und materiellen Fragen dieser Angelegenheit wurden mit dem Meister kurz vor seinem Tode ausdrücklich vereinbart, der großen Werth darauf gelegt hatte, die musikalische Einrichtung in den Händen des von ihm geschätzten Adolf Müller zu wissen; mit der Verfassung des Librettos wurden die Herren Victor Léon und Leo Stein betraut.“ In Kenntnis der Quellenlage irritieren derartige Falschmeldungen – insbesondere, dass sogar „materielle Fragen“ geklärt gewesen wären!
Am 26. Oktober 1899 – einen Tag nach Strauss’ Geburtstag – kommt es zur Uraufführung.
Die Kritik von Karl Kraus, in: „Die Fackel“, Heft 21, Oktober 1899:
„Leon & Stein speculierten auf die Manen Johann Strauß’, […] Man weiß ja, dass unmittelbar nach dem Tode […] im Nebenzimmer bereits getandelt und im ,Nachlass‘ herumgestiert wurde. […] Der Tod […] ist von sorgenden Hausgeistern [gemeint ist Adele Strauss] für befreundete Journalisten adaptiert worden. […] Eine so mätzchenreiche Komödie ward mit Johann Strauß’ Andenken getrieben […] sie warfen verschwenderisch Erdschollen ins Grab, wohlwissend, dass sie dafür Tantièmen zurückbekommen werden. Aber schandenhalber hätte bis zur Première doch ein Trauerjahr verstreichen können.“
Prof. Norbert Rubey