Mein beruflicher Alltag in der Musiksammlung der Wienbibliothek im Rathaus brachte es mit sich, dass ich regelmäßig Anfragen aus aller Welt nach Aufführungsmaterial, Partituren und Orchesterstimmen zu den Kompositionen von Johann Strauss (Sohn) erhielt. Dies wird vielleicht Verwunderung auslösen, wird diese Musik doch ohnehin überall und mitunter auch viel zu oft gespielt. Tatsache aber ist, dass es von vielen Kompositionen des berühmten Johann Strauss (Sohn) kein dem Originalwerk wirklich entsprechendes Aufführungsmaterial gibt. Dazu kommt, nicht zuletzt wegen des Problems, gut spielbare Noten aufzutreiben, dass sich kaum mehr als nur etwa 50 von ungefähr 500 Werken im Repertoire der Orchester befinden.
Wieso gibt es das, werden Sie sich fragen. Jahrzehnte hindurch galt die Erforschung von Wiener Tanzmusik und Wiener Operette im 19. und 20. Jahrhundert im Bereich der Musikwissenschaft als nicht standesgemäß. Dieses Fachgebiet wurde interessierten Laien überlassen, die, abgesehen von einigen Ausnahmen, der Quellenforschung auf diesem Gebiet kaum gewachsen waren. So kam es, dass von Jahr zu Jahr die Primärquellen immer rarer wurden, aber die Anzahl verschiedener Bearbeitungen in den Himmel wuchs, lässt sich mit Strauss-Musik doch auch leicht gutes Geld verdienen. Diese Entwicklung brachte es mit sich, dass selbst heute noch vielerorts Strauss-Musik erklingt, die dem musikalischen Anspruch des genialen Komponisten nicht genügt.
Schon vor Jahrzehnten ist sich der renommierte Wiener Musikverlag Doblinger der großen Verantwortung bewusst geworden, das musikalische Vermächtnis von Johann Strauss (Sohn), welches für die Stadt Wien, für die Republik Österreich, für die ganze Welt ein einmaliges Kulturerbe darstellt, zu restaurieren, zu pflegen und künftigen Generationen zu erhalten. So kam es, dass 1967 die Johann Strauss Gesamtausgabe mit der kritischen Edition des Walzers „An der schönen blauen Donau“ ihren Anfang nahm, 100 Jahre nach der ersten Aufführung dieser „heimlichen Hymne Österreichs“. Mitbegründer und erster Editionsleiter war Fritz Racek, der damalige Leiter der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute: Wienbibliothek im Rathaus). Nach Raceks Tod im Jahr 1975 stagnierte die Ausgabe, nicht zuletzt wegen der damals noch unzureichenden Quellenaufarbeitung. Mitte der 1990er-Jahre übernahm ich die Editionsleitung der Johann Strauss Gesamtausgabe. Seither enthält der Titel den Zusatz „in Zusammenarbeit mit dem Wiener Institut für Strauss-Forschung“. Diese Institution ist ein Trägerverein mit dem Hauptzweck der Erfassung der musikalischen Quellen zu den Strauss-Kompositionen und deren, einem wissenschaftlichen Anspruch genügenden, Beschreibung in Thematisch Bibliographischen Werkkatalogen. So ist das Strauss-Elementar-Verzeichnis (SEV) die Grundlage für die Veröffentlichung der Kompositionen in Doblingers Johann Strauss Gesamtausgabe geworden.
Mittlerweile sind insgesamt über 100 Werke von Johann Strauss (Sohn) in Partitur und Orchesterstimmen im musikalischen Fachhandel käuflich zu erwerben. Damit fallen keinerlei Leihgebühren an. Die Ausgaben erscheinen in sehr gut lesbarem Notentext und in ansprechender Ausstattung. Beigegeben sind ein Vorwort, das Information zur Entstehung, zur ersten Aufführung, zur etwaigen Widmung etc. bietet, die Titelseite der Klaviererstausgabe mit oft für die Genese des Werks äußerst aussagekräftiger Titelillustration sowie natürlich ein ausführlicher Revisionsbericht mit Quellenbeschreibung und Quellenvergleich und darüber hinaus auch noch die Herkunft der Melodien anführend, wenn es sich um ein Arrangement nach Motiven etwa eines Bühnenwerks handelt.
Zunehmend spielen die Wiener Philharmoniker bei den traditionellen Neujahrskonzerten nach dem Material von Doblingers Johann Strauss Gesamtausgabe. Dies ist nicht nur äußerst erfreulich, sondern auch ein großer Ansporn zur zügigen Fortsetzung dieser einmaligen Ausgabenreihe in höchster editorischer Qualität.
Weitere Informationen dazu finden sie hier: https://www.doblinger.at/index.php?pid=categories&filterCat=999&iCatId=638&filterSearch=Doblinger&setFilter999=Hinzufügen